Ich versuche, die Gedanken an meinen Vater zu verdrängen. Das funktioniert nicht. Meine Stasi-Akte holt sie vor.
Als mein Vater seinen achtundachtzigsten Geburtstag feierte, am 10. September 1987, lernte ich ihn und einige meiner Halbgeschwister in Solingen kennen. Mein jüngster Halbbruder sagte: ‘Sei froh, dass du nicht mit unserem Vater aufwachsen musstest!“ Wie recht er damit hatte, doch das merkte ich viel zu spät! Ich kann von ihm nur ‘von außen’, als Beobachter, schreiben und nur über einen einzigen Tag. Vom überraschenden Besuch eines alten Mannes:
„Wann kommt denn endlich Omi“, fragt Maike.
„Morgen“, antwortet die Mutter, denn die Omi muss heute bei sich zu Hause sein. Hans, ihr Verhältnis, hat Ausgang - seine Frau geht mit Freundinnen ins Kino. Schade! Ohne die kleine Omi ist die Familie, Mama Charlotte, Maike und Hendrik, nicht komplett, kein glückliches Kleeblatt.
Es ist der 22. Dezember 1982. Weil Maike Ferien hat, können sie und ihr vierjähriger, um fünf Jahre jüngerer, Bruder Hendrik nicht sich selbst überlassen werden. Weihnachtszeit ist schließlich Kokelzeit, und die Kinder haben sich auf dem Gebiet bereits unrühmlich hervorgetan.
Charly greift sich ein Kinderbuch aus dem Regal, das beiden Kindern gerecht werden wird, verteilt Weihnachtsgebäck und Süßigkeiten auf dem festlich geschmückten Tisch und zündet die im ganzen Wohnzimmer verteilten Kerzen an. Sie kuscheln eng aneinander auf der Couch. Die Kinder lauschen gespannt; die Außenwelt existiert nicht mehr - draußen ist schwarze Nacht, nicht einmal der Wald vor den Fenstern zeigt seine Silhouette.
Es klingelt. ‘Wer kann das sein? ’ „Omi kommt“, jubelt Maike und stürzt erwartungsfroh zur Tür.
„Mama, da steht ein Mann und sagt, er ist mein Opa!?“ Charly erhebt sich, Kopf schüttelnd. Neugierig drängt sich das Mädchen hinter ihren Rücken und folgt der Mutter zur Tür. Sie schauen auf zu einem alten Mann, den die Mama langsam zu erkennen scheint.
Der Mann malmt mit den Kiefern: „Lass´ mich rein, ich bin dein Vater!“
Die Mutter lässt den Riesen in die Wohnung, bietet ihm aber keinen Platz an. Sie betrachtet den Mann und denkt: ‘Der ist ja noch hässlicher als auf dem Passfoto! ’ Graumeliertes, fettiges Haar, das er sich gerade gekämmt haben musste - den Hut hält er mit Riesenpranken verkrampft vor dem Bauch. Wulstige Lippen, die zittern und schmatzende Geräusche hervorbringen, weil er nun erklärt: „Ich löse den Haushalt meiner verstorbenen Schwägerin in Schwerin auf. Weil das sonst keiner meiner Familie genehmigt bekommen hätte, bin ich gefahren.“
Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen. Von einem Opa haben sie noch nie etwas gehört. Sie zerren ihn ins Wohnzimmer und schubsen ihn in einen Sessel. Starren ihn neugierig an.
Die übertölpelte Mutter stöhnt kurz auf und befielt: „Ihr macht jetzt mal ganz schnell ´ne Mücke und geht ab ins Bett! Ich erzähle euch morgen alles, was ihr wissen wollt.“ Oha! Den Ton sind sie nicht gewohnt. Widerspruchslos ziehen sich die Kinder zurück.
„Willst ‘n Kaffee“, fragt Charly und nimmt dem Alten Mantel, Schal, Handschuhe und Hut ab. Als der Kaffee gekocht ist und die Kinder tatsächlich brav in ihren Betten liegen, schließt die Mutter die Wohnzimmertür und setzt sich ihrem Erzeuger gegenüber. Jeder hatte sich ein wenig auf die Situation einstellen können.
Der Alte lamentiert: „Ich habe nicht herausgefunden, wo Mieken, deine Mutter, heute wohnt. Die war ein heißer Feger. Ich habe sie nie vergessen. Deshalb wollte meine Frau mich auch eigentlich nicht fahren lassen. Gib mir bitte ihre Telefonnummer.“
Die Antwort hätte er sich denken können: „Ich werde dir was husten! Wenn du hier nur auftauchst, um eine alte Liebschaft aufzufrischen, dann kannst du gleich wieder verschwinden.“
„Nein, nein, so ist das nicht. Ich wollte dich schon auch kennenlernen, habe dich ja nur kurz nach deiner Geburt und dann nie wieder gesehen - du bist ja fast so schön wie deine Mutter. Hast leider meine Größe und Statur geerbt.“
Charly schluckt ihren Groll herunter und denkt sich: ‘Wenn ich den jetzt rausschmeiße, erfahre ich nie von meinen Wurzeln. ’ Sie setzt eine freundliche Miene auf, holt Wein und Gläser und erkundigt sich: „Nun erzähle mir von dir. Ich bin doch neugierig, warum ich so völlig anders geartet bin als meine Mutter.“ Sie erfährt, dass ihr Vater 1899 in Neustrelitz geboren wurde und Einzelkind eines Handwerkers und seiner Frau war. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Jugendlicher, den Zweiten als einfacher Soldat. Seine Ehefrau, mit der er ein Leben lang verheiratet ist und vier Kinder hat, erträgt es, dass er nicht nur einen außerordentlichen Sohn hat, sondern mit Mieken auch eine außereheliche Tochter. Er hat es halt mit den Frauen.
Aha, resümiert sie: ‘Dann habe ich also fünf Halbgeschwister. Wäre ja ganz nett, die alle mal kennenzulernen. Und überhaupt: Mein Vater ist alt und lebt im Westen. Womöglich bekomme ich ja für seine Geburtstage eine Besuchserlaubnis? ’
„Warum hast du dich eigentlich niemals nach mir erkundigt“, fragt sie.
„Meine Frau war so was von wütend. Mieken das Kind abzunehmen, dazu war sie nicht bereit. Als Hebamme hätte sie das machen können, aber deine Mutter hätte die illegale Abtreibung nicht überstanden. Da sind wir Hals über Kopf nach Solingen abgehauen.“
„Du lügst!“ widerspricht Charly erregt.
Es war so: „Meine Mutter wollte niemals heiraten, weil die Ehe ihrer Eltern so schrecklich war. Sie wollte einzig und allein ein Kind. Und weil sie dem Mann, den sie sich dafür ausgesucht hatte, keine Scherereien machen wollte, hat sie freiwillig auf Unterhalt verzichtet und mich allein durchgebracht.“
„Da hat dir deine Mutter einen schönen Bären aufgebunden, mein Kind“, lacht der Alte.
Der Mann spürt, dass er an ein Tabu-Thema rührt. Unbeeindruckt holt er aus: „Deine Mutter war erschöpft und schrecklich erkältet, die Nase lief und war puterrot. Ganz außerordentlich zuwendungsbedürftig war sie. Ausgerechnet bei mir suchte sie Trost. Ich habe die Gelegenheit ergriffen und sie verführt. Mehr war nicht.“
In Charlys Kopf zirrt es ‘Binnng’ und ‘Binnng’! So, wie es tönt, wenn das Eis sich gegen den Frost wehrt und der Druck mit hundertmeterlangen Rissen sich entlädt. Sie hat es gehört, wenn sie morgens mit Schlittschuhen über den zugefrorenen Schweriner See von Zippendorf zum Marstall zur Arbeit lief.
Sollte an dem, was der Vater erzählt, etwas dran sein? Es hatten sich schon manchmal leise Zweifel ins Bewusstsein geschlichen: ‘Warum hat sich Mutti keinen schönen und klugen Mann ausgesucht, um sich ein Kind machen zu lassen? ’
Charly erfährt, dass man gleich nach dem Krieg Schwangerschaftsabbrüche stillschweigend genehmigt bekam, wenn man von Russen vergewaltigt worden war. Ihre Mutter habe gerade die zweite hinter sich gehabt, Russen wären allerdings nicht schuld gewesen.
„Deine Mutter wollte die verlorene Jugend nachholen und hat es ganz schön getrieben. Sie war wohl davon ausgegangen, dass sie nicht gleich wieder schwanger werden kann.“
Dann war aber das ‘Malheur’ doch geschehen.
‘Ich bin also ein Malheur! ’ denkt Charly.
„Mieken war schwach und elend während der ganzen Schwangerschaft, so dass wir, deine Mutter, meine Frau und ich selbst, gehofft haben, dass sie die Frucht mit heißen Bädern und gewagten Sprüngen loswerden könnte. Alles hat nichts genutzt.“
‘Ich bin ein u n g e w o l l t e r Nachkriegsbastard! ’ konstatiert Charly.
Wieder dieser See im Kopf. Nun ist es das viele Zentimeter dicke Eis. Durchsichtig, so dass man nur schwach sich bewegende Schlingpflanzen sieht und keinen Grund.
Sie schickt ihren Vater fort, weil sie dem sabbernden Menschen einfach nicht mehr zuhören kann. Für heute reicht ihr, was sie erfahren hat. Sie gibt ihm die Telefonnummer ihrer Mutter und verspricht, ihn am nächsten Tag Opa spielen zu lassen.
Es ist spät geworden. Charly schaut in die Kinderzimmer. Beide Kinder schlafen, trotz der Aufregung, tief und fest. Ein Weilchen verharrt sie noch im Wohnzimmer auf der Couch und hängt trüben Gedanken nach. Dann steht sie auf und nimmt sich einen Stapel Fotoalben zur Hand.
‘Sie hat mich nicht gewollt! ’ Warum hat sie mir nur dieses Lügenmärchen aufgetischt? Von wegen heiß ersehntes Wunschkind!
Charly blättert durch die Alben. Schaut auf Bilder von ihrer Omi und von sich. Omi mit dem grauen Lockenkopf und ihrer ovalen Lacktasche, in die Handtuch und Decke verstaut wurden, wenn sie zum Baden gingen. Mutti fehlt. Die ist im nächsten Album zu sehen, ohne ihr Kind. Und noch ein Album mit der Mutti, jetzt mit Freundinnen im Urlaub. Ohne ihr Kind. Sie zählt nüchtern eins und eins zusammen. ‘Ich bin nicht nur ungewollt zur Welt gekommen; meine Mutter hat mich auch die ganzen ersten Lebensjahre vernachlässigt. ’
Charly hat das Gefühl, im eiskalten Wasser des Sees zu versinken. So, wie in ihren Alpträumen. Als sie das letzte Mal über das Eis gelaufen war, nach der Arbeit, die Sonne hatte schon Kraft, und durch die Risse im Eis drang Seewasser, war sie von einer Eisscholle mit Schwung zur Mitte der nächsten hinübergelaufen. An einer etwas zu spät abgesprungen. Die Eisscholle schwappte bedrohlich. Mit dem linken Schlittschuh versank sie im Wasser. Gerade noch mit dem Gewicht hinübergerettet.
Dann öffnet Charly die Augen wieder, geht an das Fenster und schaut in die Nacht. Morgen, morgen werde ich mit Mutti reden...
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