Auszug Seite 33 bis 41

DDR - Rennpappe als Porschekiller

 

 

 

Noch leistet der Trabi von Annette Gleichner treue Dienste und stänkert zwischen Bad Segeberg und Rostock seine graublauen Abgase, Endprodukt des Verbrennens eines getankten Gemisches von einem Liter Öl zu dreiunddreißig Litern Benzin, in die um die Bundesrepublik und die ganze Welt erweiterte Stadt- und Landluft. 

Die Begeisterung für Trabis und deren Insassen hat sich im August 1990 bereits merklich abgekühlt. Die knatternden Dinger sind derart aufdringlich; man muss sie nicht einmal sehen. Zu hören sind sie Sekunden vor ihrem Anblick, was westdeutschen Ohren wehe tut. Ihre stinkenden Abgaswolken erzeugen Übelkeit. Was viel schwerer wiegt: Sie sind erwiesenermaßen krebserregend. An stark befahrenen Kreuzungen lag die Belastung mit Benzol in der West-Bundesrepublik nicht über zehn bis fünfzehn Mikrogramm. Die in den Zweitaktern liegende Konzentration übersteigt diesen Umweltstandard um ein Mehrfaches, es sollen siebzig Mikrogramm sein! 

Besonders geplagte BRD-Bürger hatten im Entsetzen, was da über sie hereingefallen ist, schon früh die Gerichte angerufen. Sie wehrten sich gegen den ungehinderten Strom von Autos der DDR-Besucher. Waren sie jemals von der Vereinigungseuphorie angesteckt, so war die schnell verflogen.

Frau Gleichner versteht, warum man ihrem papyrusweißen Trabant Kombi 601 scheel entgegen und nach sieht. Sie hängt an ihm trotz Gestank, Knattern und Enge. Liebe und Leid sind mit ihm verbunden, Urlaubsfahrten, Feste mit zehn Kindern und Geburtstagskuchen, Obst, Gemüse und Eingewecktes aus dem Garten, Pilzkörbe und Picknickdecken… Wendig ist ihr `Waldemar´, der gelobt werden muss, wenn er wieder einmal nicht auf der Straße liegengeblieben war. 

Doch es sind neue Zeiten angebrochen. 

Der Verkehrswert ihres `Waldemar´ wird rasant sinken. Dessen ist Frau Gleichner sich sicher. Die Verkaufsanzeige für ihn erscheint am kommenden Samstag in der Rostocker Ausgabe der Ostsee-Zeitung. Ein gebrauchtes West-Auto kann sie erst kaufen, hat Herr Gleichner bestimmt, wenn sie das Bargeld ihres mehrfach generalüberholten Kleinwagens in den Händen hält. Die Aussichten für einen guten Verkaufspreis sind NOCH recht gut: Kombis sind die de luxe Version der Marke. Sie sehen bedeutend schicker aus als die großspurig als Limousine bezeichnete Standardausgabe mit geringerem Innen- und winzigem Kofferraum, die im Volksmund ironisch `Asphaltblase´ genannt wird.

Von der ersten Gebrauchtwagenschwemme aus BRD-West hat man Schlimmes gehört: Überteuert, rostig und mit versteckten Mängeln, die unkalkulierbare Werkstattkosten nach sich ziehen. NOCH gibt es deshalb Liebhaber des `DDR-Arbeiter- und Bauern-Volkswagens´, und ihrer ist in Bestzustand. 

Indes, eine letzte Aufgabe hat `Waldemar´ noch zu erfüllen.

 

 

Die Aufbauhelfer der Eheleute Gleichner haben Annette zum Firmensitz nach Oldenburg in Oldenburg eingeladen. Für das kleine Büro ihrer Heizungs- und Sanitärfirma aus dem Landkreis Rostock soll ein Aktenrondell mit vier Etagen für sechsundneunzig Ordner ausgesondert und quer durch Norddeutschland verschafft werden. Das bekommt man nicht per Post gesandt.

Im neu gebauten Oldenburger Bürogebäude ist das Rondell fehl am Platz: Stabile Metallrahmenkonstruktion, Vierfußkreuz mit Rollen in lichtgrau, die schwankt und sich kaum noch rollen lässt. Drehteller aus hellbrauner melaminharzbeschichteter Platte werden von kackbraunen Plastikblenden eingefasst, die die Ordner stoppen sollen. Das beißt sich alles mit dem modernen Ambiente in den frischen Firmenfarben rot und weiß. Praktisch, dass man das schwere Ding nicht entsorgen muss, und dass es anderswo noch gute Dienste leisten kann.

 

 

Firma Heer & Söhne GmbH und die Gleichners haben sich Anfang 1990 auf einer Baumesse in Bremen persönlich kennengelernt. 

Ein Enkel des Firmengründers aus Oldenburg (Oldb), Sohn eines der gemeinsam agierenden Brüder, bestritt im Bremer Kompetenzzentrum der Handwerkskammer einen Meisterkurs für das Installateur- und Heizungsbauhandwerk. Als Geschäftsreise ließ sich der private Besuch für die Westler bestens steuerlich ausnutzen.

Die Gleichners waren mit Existenzgründern anderer Gewerke aus Rostock auf Einladung des Senates der Hansestadt Bremen im Rahmen der Städtepartnerschaft auf der Messe. Kein Geld, nur Zeit mussten sie aufbringen.

Ohne diese `Bonbons´ wären sich Gleichners und Heers nie über den Weg gelaufen.

Im ehemaligen Einigungsdusel versprachen sie sich bei Bier und Korn ewige Handwerker-Freundschaft. Die Bekanntschaft, mehr wurde es tatsächlich nicht, lohnte durchaus. Sie hatte etwas von dem, was man von Westpaketen in die DDR kannte: Die einen trennten sich leichter von Dingen, die man eigentlich noch brauchen konnte, die anderen ersparten sich Ausgaben in den ersten Gründungsmonaten. Abgesehen davon erhielten Gleichners manchen Tipp zu Vertragsgestaltung, Vergaberecht, Verhandlungen mit Lieferanten zu Boni und Rabatten und dem Steuerrecht. Persönlich getroffen hatte man sich seit der ersten Begegnung nicht wieder. 

 

 

Nun also ein zwei Meter hohes Aktenrondell auseinanderbauen und von Oldenburg (Oldb) nach Rostock verbringen: dreihundert und etwas mehr Kilometer mal zwei. Das muss `Waldemar´ wuppen. 

Es ist der 24. August 1990. Die Zuckelstrecke von Rostock nach Lübeck über die B 105 hat Frau Gleichner in den Morgenstunden hinter sich gebracht. Zwischen Karawanen von PKW Trabant, Moskwitsch, Wartburg und Westschrottkutschen, die sich gleich ihr in Richtung Hamburg wälzen: Pendler, Arbeitsuchende, Neugierige und Konsumhungrige. 

Nach Lübeck konnte sie endlich den Auspuff freiblasen, weil auf der Autobahn die linke Fahrspur ihre ist und `Waldemar´ bei 100 km/h ins Jubeln kommt. 

Auf dem Autobahnabschnitt von Hamburg nach Bremen steigt die Außentemperatur bis auf zweiunddreißig Grad an. In der `Pappe´ wird es unerträglich heiß. Trotz örtlicher Gewitter hier und da lässt Abkühlung auf sich warten. Und dann Stau! Innen- und Außenluft sind gleichermaßen schwül. 

Frau Gleichner beginnt ihr Abenteuer zu bereuen. Der Ehegatte hatte gewarnt: „Wegen der paar Piepen tust du dir so eine lange Fahrt an? Für das Geld hättest du getrost ein neues Regal bei `Möbelkraft´ kaufen können.“ Selbstverständlich hat er Recht damit, das war ihr wohl bewusst. Aber einmal aus dem Tagesstress der kleinen Firma herauszukommen, allein etwas zu unternehmen, mit Frau Heer zu klönen und die anderen Heers kennenzulernen, das hatte etwas Verlockendes. Reine Lust als Gründe für die Fahrt hätte sie ihrem Mann jedoch schlecht unterjubeln können. 

Die Karawane, nur noch gering durchmischt mit PKW aus der ehemaligen DDR, stoppelt mit Geschwindigkeiten zwischen 70 km/h und 100 km/h, Fahrzeug an Fahrzeug, die Autobahn entlang. Frau Gleichner bewegt sich auf der linken Fahrspur. Kurz mal `Waldemar´ auf 120 km/h aufzudrehen, das packt der. Sie bleibt in der Reihe. Stoizismus, Geduld und Warteschlangen sind der Trabifahrerin anerzogen. Schneller ginge es auch auf leerer Autobahn nicht. Der Sitz ist etwas in der Höhe nach oben verstellt, der linke Ellenbogen stützt sich auf das linke Knie, die linke Hand fasst lässig von hinten an´s Lenkrad. Mit der rechten auf `halbe Stunde´ steuert sie mit der Handfläche über die Kuhle von Daumen und Zeigefinger, die Finger abgespreizt. Das Fenster auf der Fahrerseite ist heruntergekurbelt. Wer sie in ihrem Auto beobachtet, könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Frau den Stau genießt.

Die Autofahrer neben und hinter Frau Gleichner werden dagegen zunehmend nervöser. Man wechselt die Fahrbahn, blinkt und hupt. Dabei haben sie gar nichts auszustehen, haben im Gegensatz zu ihrem spartanischen Komfort sicherlich Radio und Klimaanlage `on board´!

Frau Gleichner bleibt in der Reihe. 

Ein Wagen hinter ihr erschreckt sie mit greller Lichthupe, droht mit Signalhorn und fährt dicht heran an ihre Plastestoßstange. 

„Ist der verrückt geworden“, flucht sie. Nach rechts rüber kann sie nicht, selbst wenn sie es wollte. Die Kolonne neben ihr tuckert in gleichem Schleichtempo. Die Trabifahrerin winkt verstehend nach hinten zum Zeichen, sie würde Platz machen. Wenn es möglich wäre. Ist es jedoch nicht, sie brächte ihre Pappkiste in Gefahr.

Der von hinten ist ein Porsche. 

Das Winken scheint sein Fahrer als Verhöhnung verstanden zu haben. Unaufhörlich blinkt die Lichthupe, dröhnt das Signalhorn und drängelt der Mann. Frau Gleichner schaut ihm, sich nach hinten drehend, ins Gesicht, schüttelt den Kopf. Der reckt das Kinn vor, rammt den Kopf fast durch die Windschutzscheibe und gestikuliert handwedelnd vor der Stirn: `Bist du bescheuert?´ 

Das ist zu viel. Retourkutsche der Ossa ist der Zeigefinger am Kopf.

Porschemann antwortet mit Dauersignal. Die Fahrzeuge in der Umgebung scheint es langsam zu amüsieren. Ob sie Partei der begriffsstutzigen Ostfrau oder des aggressiven Angebers im Luxusschlitten sind, ist nicht eindeutig erkennbar. 

Die Ostfrau antwortet mit dem Kreis, den Zeigefinger und Daumen bilden. `Das gehört sich nicht´, überlegt sie. Nun könnte es gefährlich werden, doch der Porschefahrer lässt sich zurückfallen und verschwindet aus dem Gesichtsfeld. Endlich ist Ruhe. Die Kolonne zuckelt weiter vor sich hin.

 

 

Nach dem Abzweig Stuckenborstel hat sich der Stau aufgelöst. Frau Gleichner reiht sich in die rechte Fahrspur ein. Sie bleibt dort, als sich, durch den Zufluss der Fahrzeuge von der Autobahnauffahrt Oyten, kurz vor Bremen, der Stau erneut aufbaut und sie ausscheren könnte. Keine Lust mehr auf Ärger.

Nach einem Warndreieck auf dem Seitenstreifen entdeckt sie drei PKW und eine kleine Menschenansammlung, die sich um eine Person im vorn stehenden kümmert. Es ist der Porschemann! Der Drängler! Nun nur nicht hinsehen und womöglich entdeckt werden! Hilfe von mir wird der Mann am wenigsten wollen.

Vorbei. Die zitternden Hände klammern sich um das Lenkrad.

`Muss ich mich schämen? Hätte ich mich zu verantworten? Wenn der Drängler durch seine Wütigkeit einen Herzinfarkt bekommen hat, bin ich dann schuld?´

 

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Auch wenn auf der Bundesstraße von Bremen nach Oldenburg (Oldb) der Straßenverkehr ohne Staus verlief, sieht Frau Gleichner erst nach achteinhalb Stunden, hungrig, durstig und verschwitzt, das Ortseingangsschild. Völlig erschöpft. 

Einige hundert Meter später stottert `Waldemar´ und bleibt schließlich stehen, nicht ohne einen letzten “Pfuff“ von sich zu geben. Die Abenteurerin steigt aus, öffnet die Motorhaube und schaut verzweifelt mit leeren Augen in den heißen Motorraum.  

Nette Leute aus einem Elektrofachgeschäft helfen ihr von der Straße.

„Was, Sie kommen heute von Rostock?“, staunen sie. `Mit der Kiste?´ spricht aus ihren Augen.

„Kann ich bitte bei Ihnen telefonieren?“

Mit Kaffee, Keksen und dem telefonischen Trost: „Mach dir keine Sorgen, wir schicken dir ein Taxi, und um dein Auto kümmern wir uns morgen“, schaltet Frau Gleichner in den Überlebensmodus.

 

 

Was `Waldemars´ Reparatur gekostet hat, erfuhr Frau Gleichner nicht. Nach zwölf Stunden Schlaf, Zerlegung des verflixten Aktenrondells, einem Grillabend mit Familie Heer samt Freundeskreis und kurzer Folgenacht stand das treue Teil vor dem Haus, bereit für Beladung und Heimfahrt.

Im Auto lag eine Visitenkarte und ein Zettel mit Gruß vom Autohaus: „Je schneller der Motor bei Vollgas dreht, desto kürzer ist die Zeit, die der Kolben die Ein/Auslasskanäle zum Spülen freigibt. Irgendwann schafft das Gas nicht mehr vollständig den Weg in den Verbrennungsraum. Der Kolben `macht dicht´ und dem Motor fehlt Schmierung. Genau in diesem Betriebszustand kommt es auf jeden Tropfen Öl an. Der hat gefehlt. Kommen Sie gut nach Hause. Die Reparatur war ein Freundschaftsdienst von Firma Heer & Söhne und mir. Wir beraten Sie gern beim Kauf eines Neu- oder Gebrauchtwagens. Ihr … (unleserlich)“